Wie aus Kindern "verärgerte" Erwachsene werden.
„Mama, der Junge hat gesagt, ich soll die Fresse halten“, erklärt mir meine 8-jährige Tochter, als ich sie nach dem Grund ihrer Tränen frage. Ich besuche Sie in der Mittagsbetreuung der Grundschule. Nach drei Tagen Seminar komme ich gerade vom Flughafen und will sie kurz begrüßen. Jetzt stehe ich auf der Wiese vor der Einrichtung, umringt von einer Traube kleiner wissbegieriger Mädchen. Ich bin schockiert, wie immer. Denn bei uns zu Hause geht es meist recht motiviert und lustig zu. Solche Beleidigungen finden nicht statt, zumindest solange ich in der Nähe bin.
Ich hatte sie vorher beobachtet, wie sie bei den Jungs stand und sich stoisch beschimpfen hat lassen. „Dann gehe das nächste Mal weg und höre nicht mehr zu. Sie testen, wie weit sie gehen können und wenn Du da stehst und weinst, haben sie ihr Ziel erreicht“, erkläre ich.
„Die sind aber immer gemein zu uns“, tönt es aus allen Mündern gleichzeitig. Ich frage die Mädchen interessiert, was die Jungs so zu ihnen sagen. „Zu mir sagen sie, meine Mama wäre behindert“, sagt ein Mädchen, dessen Mutter gehörlos ist. „Mich nennen sie immer Zicke“, beschwert sich ein drittes Kind. „Zu mir sagen Sie, ich bin zu dick, aber ich bin eben keine Dünne“, meint ein Mädchen mit goldenem Haar. „Der Markus hat gesagt, du bist ein Psychoheini“, erklärt meine Tochter. Ich kann mir ein Lachen schwer verkneifen und finde es gleichzeitig schrecklich, diese Dinge zu hören. Nachdenklich beobachte ich die Buben, die sich gegenseitig jagen und spielerisch verkloppen.
„So sind Jungs in euerem Alter. Sie testen ihre Stärke. Es geht um gewinnen und verlieren. Sie nutzen dazu alles, von dem sie glauben, dass es funktioniert. Sie denken vermutlich nicht darüber nach, ob es euch weh tut, solange sie am längeren Hebel sitzen. Das wird noch schlimmer, bis Sie etwa 16 sind…dann verhalten sie sich zumindest euch gegenüber wieder anders“, erkläre ich und frage mich gleichzeitig, warum das eigentlich so ist. „Und ihr seid ja nun auch nicht immer die Engelchen“, füge ich hinzu. „In der Gruppe fühle ich mich immer stärker“, erklärt ein braunhaariges Mädel und alle nicken zustimmend.
Natürlich lässt es mich doch nicht los. „Psychoheini“ also. Ich. Mir ist klar, woher das kommt. Von den Eltern des Jungen vermutlich. Ich merke, wie mein Verstand in zwei Richtungen rennt. Erstens ist mein Ego gekränkt. „Was fällt den Eltern ein, so etwas zu sagen! Und überhaupt. Bei denen kein Wunder“, wertet mein Kopf. Sofort unterbinde ich das. Zweitens fühle ich mich sogar ein bißchen stolz. Denn ich bin ja nun mal psychologisch fit und hinterfrage das Menschsein und das Leben. Das beunruhigt genau die Menschen, die eher nichts darüber wissen möchten.
Was mich beschäftigt, dass Kinder andere Kinder ärgern. Eigentlich wollen sie alle gemocht werden. Ihr Selbstwert leidet massiv unter den Attacken der Mitschüler. Wir Erwachsenen finden das normal. Ist halt so. Mussten wir alle durch. Was uns nicht umbringt, macht uns härter und nur die Harten kommen in den Garten. Oder wie war das?
Geht es nicht anders? Warum sagen Eltern etwas schlechtes über andere Eltern bzw. andere Menschen, Berufe, Herkunft, Besitz, Aussehen? Macht es das den Kindern in der Schule nicht schwerer? Selbst ironisch, im Nebensatz z.B. beim Autofahren oder im Spaß gesagte Flapsigkeiten werden von Kindern aufgeschnappt. Denn sie hören die Emotion dahinter. Sofort wird es kopiert, denn es scheint wichtig und richtig zu sein, wenn Mama oder Papa das so intensiv intoniert.
Ich habe mir zur Gewohnheit gemacht, so gut wie nie verurteilend, abwertend oder vorurteilsbehaftet über andere Menschen vor meinen Kindern zu sprechen. Und wenn es mir doch heraus rutscht, dann erkläre ich sofort, warum ich das gesagt habe. Weil ich wütend bin, oder enttäuscht, oder verletzt, oder weil ich mich aufwerten will, indem ich anderer Leute Fehler hervor kehre.
Bleibt die Frage, warum Kinder eigentlich so gemein zueinander sind? Diese Frage lässt mich einfach nicht los. Ich könnte es damit erklären, dass sie alle emotionalen Facetten üben und testen. Was scheinbar fehlt, ist die Facette, sich gegenseitig zu motivieren, zu unterstützen und aufzubauen, selbst wenn sie keine Freunde sind. Und was ist mit Toleranz, Mitgefühl und Gemeinschaft?
Fast jeden Tag habe ich es mit Menschen zu tun, die im Beruf und privat unter dem Verhalten und Umgang anderer Menschen leiden. Es sind die erwachsenen Kinder, die sich weiter gegenseitig ärgern und testen.
Nur dass das Ärgern subtiler und strategischer abläuft. Zwischen den Zeilen, in Meetings, beim Kaffee-Lästern hinter deren Rücken oder aus der Macht-Position eines Vorgesetzten. Die Erwachsenen Kinder schreien und weinen nicht mehr, aber sie leiden ebenso unter der Zurückweisung, Abwertung und Ausgrenzung. Wäre es nicht an der Zeit, unseren Kindern genau das Gegenteil vorzuleben? Und wäre es nicht an der Zeit, umzudenken und anders zu handeln?
Stellen Sie sich vor, jeder, der Ihnen begegnet, tut das mit einem Lächeln und wertschätzendem Blick. Jeder zeigt Interesse, ist ehrlich, steht für sich ein und freut sich gleichzeitig für Sie? Und sie fühlen sich stets willkommen und anerkannt? Und stellen Sie sich weiter vor, Sie geben das gleiche zurück? Die Frage ist nur, wer fängt damit an?
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